Minsk Forum XX – Brüssel

Minsk Forum XXAktuelles

Die Beziehungen der EU zu Belarus: Ein ungelöstes Dilemma?
Protokolle der Podiumsdiskussionen und einer Präsentation
I. Belarus nach Russlands Invasion in die Ukraine: Möglichkeiten zur Unterstützung des demokratischen Übergangs
Präsentation einer soziologischen Studie über die öffentliche Meinung in Belarus zum Krieg in der Ukraine
II. Austausch mit Europaabgeordneten und belarusischen Experten über die Lage in Belarus, den Krieg in der Ukraine, die sich abzeichnende neue geopolitische Ordnung und deren Auswirkungen auf Europa

Die Beziehungen der EU zu Belarus:
Ein ungelöstes Dilemma?

Im Jahr 2022 bestand das Minsker Forum XX aus zwei eintägigen Konferenzen in Litauen und Polen, einem Rundtischgespräch mit Abgeordneten in Belgien und einer Abschlusskonferenz in Deutschland.

Die dritte Veranstaltung fand am 22. Oktober im belgischen Bundesparlament und im Europäischen Parlament in Brüssel statt. Im Gegensatz zu früheren Treffen fand dieses hinter verschlossenen Türen statt und wurde nicht online übertragen.

Brüssel, 23. Oktober 2022 

Keynotes

In ihrer Begrüßungsrede wies Dr. Hanna Stähle, Vorstandsvorsitzende der deutsch-belarussischen gesellschaft, auf die paradoxen Umstände hin, unter denen das Treffen stattfindet: Einerseits behaupten die belarusischen Offiziellen, sich vom Krieg fernzuhalten, andererseits mobilisieren sie stillschweigend die männliche Bevölkerung. Auch wenn die belarusische Gesellschaft das Lukaschenko-Regime im Allgemeinen nicht unterstützt, so existiert es doch weiterhin. Ein belarusischer Nobelpreisträger befindet sich im Gefängnis, die andere lebt im Exil.

Samuel Cogolati, Mitglied der Abgeordnetenkammer des belgischen Bundesparlaments, betonte, dass die belarusischen Politiker Sviatlana Tsikhanouskaya und Anatol Liabedzka erst vor wenigen Wochen an einem Treffen im Parlament in Brüssel teilgenommen hätten, was zeige, dass die Europäische Union den Problemen von Belarus die gebührende Aufmerksamkeit schenke.

Podiumsdiskussion I

Belarus nach Russlands Invasion in die Ukraine:
Möglichkeiten zur Unterstützung des demokratischen Übergangs

An der Diskussion nahmen Dirk Schübel (Sonderbeauftragter für die Östliche Partnerschaft [Botschafter at-large], ehemaliger EU-Botschafter in Belarus), Prof. Elena Korosteleva (Oxford Belarus Observatory und Warwick University, UK) und Pavel Slunkin (European Council of Foreign Relations, Visiting Fellow, ehemaliger Beamter des Außenministeriums in Belarus) teil. Das Gespräch wurde moderiert von Samuel Cogolati (Mitglied der Repräsentantenkammer, Vizepräsident des Ausschusses für Menschenrechte im Parlament des Königreich Belgien).

Frau Korosteleva erläuterte zunächst die Gründe, warum viele Wissenschaftler darin übereinstimmen, dass die Revolution in Belarus gescheitert sei, und zwar:

  • Proteste verschwinden im Untergrund
  • Die Gegner von Lukaschenkos Regime sind über die ganze Welt verstreut
  • Stagnation der Wirtschaft
  • Abwanderung von intellektuellem Potenzial
  • Zusammenbruch des Gesellschaftsvertrags
  • Verschlechterung des Bildungsniveaus
  • NGOs sind gezwungen sind, ihren Sitz zu verlegen
  • Anti-Terrorismus- und Anti-Extremismus-Gesetzgebung

Ungeachtet all dieser Faktoren ist Frau Korosteleva der Ansicht, dass die Revolution nicht gescheitert ist, und das sind ihre Argumente:

  • Die Mentalität der Weißrussen hat sich geändert.
  • Es war eine Revolution der Würde (eine Anspielung auf den Aufstand in der Ukraine).
  • Die Menschen kämpften für eine bessere Zukunft.
  • Der Wendepunkt war die Auffassung „Sie dürfen uns nicht so behandeln.“
  • Die Präsenz von Aktivisten an verschiedenen geografischen Standorten schafft neue Möglichkeiten.
  • Die Zivilgesellschaft konzentriert sich auf Kooperation, Zusammenarbeit und die Bildung von Koalitionen.

Herr Schübel, der zum ersten Mal in seiner Funktion als EU-Sonderbeauftragter für die Östliche Partnerschaft an dem Treffen teilnahm, versuchte in seiner Rede zwei zentrale Fragen zu beantworten: Was ist die offizielle Position der EU zu Belarus, und was kann noch getan werden, um diese schwierige politische Situation so schnell wie möglich zu lösen? Laut Schübel hat sich die offizielle EU-Politik seit Oktober 2020 nicht geändert, und die EU hat die Zusammenarbeit mit Lukashenkas Regierung eingestellt.

Schübel hält es jedoch für wichtig, zumindest eine Kontaktmöglichkeit mit der derzeitigen Regierung zu haben. Aus diesem Grund ruft die EU gelegentlich das belarusische Außenministerium an und Außenminister Wladimir Makei hatte die Möglichkeit, am UN-Gipfel teilzunehmen. Die EU unterstützt nach wie vor nicht bestimmte politische Parteien, sondern gewährt den demokratischen Kräften von Belarus finanzielle Unterstützung, die sich nach Angaben von Herrn Schubel auf etwa 30 Millionen Euro pro Jahr beläuft. 

Herr Schübel äußerte sich auch zur Rolle von Belarus in diesem Krieg: „Wenn Putin diesen Krieg verliert, bin ich nicht optimistisch für Lukaschenko.“ Der Sprecher hält es für problematisch, sich vorzustellen, dass Putin den Krieg gewinnt, denn „das wäre eine Katastrophe für die ganze Region“. Der Botschafter ist auch davon überzeugt, dass Lukashenka zunehmend die Kontrolle über Putins Handeln in Belarus verliere und er ist zuversichtlich, dass Lukashenka keine Truppen in die Ukraine schicken werde. Die Mehrheit der Belarusen uterstütze diesen Krieg nicht und niemand könne sagen, wie es für Lukaschenko ausgeht, wenn die Belarusen irgendwann Waffen in die Hände bekommen.

Herr Schübel äußerte sich auch zur Verleihung des Friedensnobelpreises an Ales Bialiatski. Er ist der Meinung, dass Herr Bialiatski in der Tat der beste Kandidat für den Preis sei, besser als Frau Tsikhanouskaya, die erst seit ein paar Jahren für die Menschenrechte in Belarus kämpfe, während Bialiatski ein lebenslang engagierter Menschenrechtsverteidiger sei. 

Herr Schübel hält es für notwendig, den Kampf für die Befreiung von Belarus vom Lukashenka-Regime fortzusetzen:

  • durch Treffen mit Vertretern der demokratischen Kräfte aus Belarus in Brüssel: mindestens zweimal im Jahr und ohne die Teilnahme von Regierungsvertretern;
  • durch die Aufnahme der belarusischen Frage in die politische Agenda der EU;
  • durch die Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit für die Folterungen in den Gefängnissen und die Situation in Belarus im Allgemeinen, die sich noch verschlechtert habe, da die Medienlandschaft mit Fake News von belarusischen und russischen Wortführern gefüllt ist.

Er schloss mit der Feststellung, dass die Einsetzung des Übergangskabinetts durch Swiatlana Tsikhanouskaya auch die Erwartungen der EU an diese Institution erhöhe und dass neue Sanktionspakete gegen Lukashenka und seine Verbündeten verabschiedet werden sollten.

Zu dem brutalen Vorgehen gegen regimekritische Kräfte im Jahr 2020 merkte Slunkin als jemand, der einige Zeit innerhalb des Regierungsapparats tätig gewesen ist, an, dass es sich seiner Meinung nach nicht um eine Vorbereitung auf den Krieg handelte, sondern eher um einen Versuch Lukashenkas, sich neben Putin zu profilieren.

Wie mehrere Teilnehmer des Warschauer Panels über die sich verändernde geopolitische Ordnung vertritt auch Slunkin die Ansicht, dass die Souveränität von Belarus heute ausschließlich von den Ergebnissen des laufenden Krieges abhänge. Die heutigen demokratischen Kräfte von Belarus im Exil und die Ukraine hätten denselben Feind, aber unterschiedliche Ansichten über die Gründe, weshalb militärische Raketen aus Belarus abgeschossen werden.

Eine weitere wichtige Botschaft des ehemaligen Diplomaten Slunkin war, wie wichtig es sei, die Legitimität der demokratischen Kräfte unter der Führung von Frau Tsikhanouskaya zu bewahren oder vielmehr aufrechtzuerhalten: sowohl für externe Partner als auch für die Menschen in Belarus, die sich isoliert und verlassen fühlen. In dieser Hinsicht, so Slunkin, sei die finanzielle Unterstützung von zentraler Bedeutung, da die meisten NRO und Menschenrechtsstrukturen von europäischen Geldern abhängig seien, keine Unterstützung von belarusischen Unternehmensstrukturen erhielten und der Möglichkeit beraubt worden seien, innerhalb von Belarus mit ihren Zielgruppen zu arbeiten.

Zu den wichtigsten Fragen für die belarusische Delegation gehörten die folgenden:

  • Wie bewertet die EU die Auswirkungen der Sanktionen auf das belarusische Regime und die einfachen Bürger?
  • Wie kann man den Politikern in der Welt am besten pragmatisch und nicht emotional erklären, wie wichtig es ist, sich mit dem Problem von Belarus zu befassen?
  • Warum sind die europäischen Medien nicht so sehr daran interessiert, über die möglichen oder vorhandenen Auswirkungen von Sanktionen zu berichten, da viele Menschen, die gegen Lukashenka sind, auch gegen Sanktionen sind?
  • Welche Szenarien sind für das Kabinett Tsikhanouskaya denkbar, um mit der ukrainischen Regierung zusammenzuarbeiten?

Leider waren die Antworten auf diese Fragen nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt, aber wir hoffen, dass die Teilnehmer sie bei ihrer künftigen Arbeit nutzen werden. 

Präsentation von Forschungsergebnissen

Der Soziologe Dr. Andrey Vardomatski stellte die Ergebnisse einer soziologischen Studie über die öffentliche Meinung in Belarus zum Krieg in der Ukraine vor. Die Telefonumfragen wurden in drei Phasen durchgeführt: von März bis September 2022. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie sind folgende:

  • Die öffentliche Meinung in Bezug auf die Unterstützung der Oppositionspolitiker ist zwiespältig: Über 90 % der Belarusen unterstützen die Maßnahmen des ukrainischen Präsidenten Zelenskyy, während etwa 80 % die Maßnahmen des russischen Präsidenten Putin unterstützen;
  • Die Belarusen stehen der möglichen Entsendung belarusischer Truppen in die Ukraine zur Teilnahme an Militäraktionen ablehnend gegenüber, aber im Laufe der Zeit nimmt diese Ablehnung allmählich ab: Im März 2022 waren 85 % der Bevölkerung gegen die Entsendung von Belarussen in den Krieg, während diese Zahl im September 2022 auf 81 % sank;
  • Auf die Frage, wer die Hauptverantwortung für die Eskalation des Kriegskonflikts in der Ukraine trägt, gaben die Belarusen im Mai 2022 an, es seien Russland und die USA (je 25%) oder die Ukraine und die NATO (je 10%), was eine völlige Divergenz der Meinungen zeigt;
  • Zwei Drittel der Belarusen halten ihr Land nicht für einen militärischen Aggressor. Dr. Vardomatski erklärt dies mit dem Versuch, sich zu verteidigen („Es geschah gegen unseren Willen.“) und einer unzureichenden Berichterstattung in den Medien, da die unabhängigen Medien nur eine sehr begrenzte Reichweite bei der Zielgruppe haben und die pro-russischen Medien ausschließlich eine pro-russische Darstellung präsentieren.

Podiumsdiskussion II

Austausch mit Europaabgeordneten und belarusischen Experten über die Lage in Belarus, den Krieg in der Ukraine, die sich abzeichnende neue geopolitische Ordnung und deren Auswirkungen auf Europa

Aus dem Europäischen Parlament nahmen vier Parlamentarier an der Diskussion teil: Petras Auštrevičius (Renew Europe Group), Sergey Lagodinsky (Die Grünen/Freie Europäische Allianz), Andrius Kubilius (Europäische Volkspartei (Christdemokraten)) und Juozas Olekas (Progressive Allianz der Sozialisten und Demokraten).

Herr Auštrevičius nannte seine Rede versuchsweise „Vom Schlimmen zum Schlimmeren“ und bezog sich dabei auf die vom Regime Lukashenkas ausgehende Aggression. Bisher sei diese Aggression meist „innerstaatlich“ gewesen und habe sich in Repressionen gegen die Bürger geäußert doch dann habe sie sich auf die Nachbarländer ausgeweitet: auf die Ukraine, die mit Raketen beschossen wird, und auf Polen, in das Migranten eindringen, die von Lukashenka als Hybridwaffe eingesetzt würden. Der Abgeordnete räumt ein, dass Lukashenka die Informationslandschaft in Belarus fest im Griff habe, was durch Repressionen und die totale Unterdrückung der Meinungs- und Medienfreiheit ermöglicht worden sei.

Auštrevičius behauptete, während die vom Europäischen Parlament im Jahr 2020 ergriffenen Maßnahmen „zur Rettung der belarusischen Gesellschaft“ gedacht waren, habe sich das aktuelle Ziel auf die „Rettung der Nachbarländer“ verlagert. Herr Auštrevičius schloss seine Rede mit der Hoffnung, dass das neue Übergangskabinett von Tsikhanouskaya gründlich arbeiten und dem Europäischen Parlament seine Vorschläge vorlegen werde.

Herr Kubilius erläuterte seine Vorstellungen darüber, wie die demokratischen Kräfte in Belarus effektiver arbeiten könnten, um qualitative Veränderungen zu erreichen. Er schlug vor, die Krise als Chance zu betrachten, da der Sieg der Ukraine in diesem Krieg drastische positive Veränderungen für die gesamte Region bringen könne. Er hält es für natürlich, dass sich die Aufmerksamkeit von Belarus auf andere Teile der Welt verlagert habe, und schlägt vor, dies als gegeben hinzunehmen, anstatt sich zu beschweren oder beleidigt zu sein, dass Belarus auf der europäischen politischen Bühne nur noch wenig Beachtung finde. Der Parlamentarier bezweifelt auch, dass die belarusische Opposition in der Lage sein werde, Lukaschenko kurzfristig zu stürzen, fordert sie aber auf, zwei politische Botschaften zu verbreiten:

  • Die uneingeschränkte Unterstützung des ukrainischen Volkes im Krieg gegen das imperiale Russland unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen und zu praktizieren.
  • Deutlich zu machen, dass Belarus nach dem Sieg der demokratischen Kräfte den Weg der europäischen Integration nach dem Vorbild Georgiens und Moldawiens einschlagen werde.

Herr Lagodinsky schlug vor, Belarus wie ein besetztes Gebiet zu behandeln, in dem Totalitarismus, Aggression des Regimes und die Verwicklung des Landes in den Krieg die Grundbedingungen für den Status quo sind. Er erinnerte daran, dass die Belarusen derzeit sehr konkrete, messbare und erreichbare Arbeitsziele haben, die nicht direkt mit politischer Lobbyarbeit oder der Suche nach richtigen Formulierungen zu tun haben, z. B. die Unterstützung von politischen Gefangenen.

Generell kann man feststellen, dass die belgischen und europäischen Parlamentarier sich der Probleme von Belarus und deren Ursachen durchaus bewusst sind. Sie sprechen freimütig darüber, wie sie Belarus bereits unterstützen und welche Maßnahmen sie zu ergreifen bereit sind, um politischen Aktivisten im Exil zu helfen. Sie weisen jedoch darauf hin, dass Belarus derzeit nicht im Mittelpunkt der europäischen Politik steht und dass sein Schicksal eng mit den Ergebnissen des von Russland initiierten Krieges gegen die Ukraine verbunden ist.

Die Europaabgeordneten machen auch keinen Hehl daraus, dass sie sehr klare Erwartungen an die Arbeit des reformierten Kabinetts von Sviatlana Tsikhanouskaya als institutionellen Vertreter haben und betonen, dass die Zukunft von Belarus in den Händen der Belarusen liege. Um dieser wünschenswerten Zukunft näher zu kommen, sei strategische Geduld erforderlich.

Die Realität der Belarusen, die im Lande bleiben, ist durch zwei Diskussionsräume und zwei Oppositionsbündnisse gekennzeichnet:
Laut Dr. Vardomacki kann die erste Gruppe von Belarusen nominell als „Kriegsgegner“ bezeichnet werden. Dazu gehören Menschen, die Informationen von unabhängigen Medien erhalten, die die militärische Aggression Russlands und die Beteiligung von Belarus am Krieg nicht unterstützen, die die Nutzung des Landes als russische Militärbasis ablehnen und die ständig der Gefahr brutaler Repressionen ausgesetzt sind.
Zur zweiten Gruppe gehören diejenigen, die davon überzeugt sind, dass „es keinen Krieg gibt“. Sie glauben, dass Belarus verpflichtet sei, Russlands Verbündeter zu sein, und dass dies Belarus nicht zu einem aktiven Teilnehmer am Krieg mache, so dass das Land nach ihrem Verständnis politisch neutral bleibe.

Ein durchschnittlicher Belaruse ist eher der Meinung, dass Russland, die Ukraine, die USA, die NATO oder die EU Schuld an dem Krieg haben, was einerseits die Vielfalt der politischen Meinungen zeigt und andererseits die Defizite in der politischen Bildung der Bevölkerung deutlich werden lässt. Wichtig ist, dass die Medien die Hauptrolle bei dieser Bildung spielen (oder spielen könnten).