Belarusische Diaspora in Deutschland: Vergangenheit und Gegenwart

Belarusian Refugees in Germany, late 1940s or 1950s
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Bis zu 50 Tausend Menschen belarusischer Herkunft leben heute in Deutschland. Die Belarusische Diaspora existiert hier seit der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts

Für Ende 2022 zeigen offizielle Statistiken, dass 28.835 belarusische Staatsbürger in Deutschland leben, darunter 19.300 Frauen und 9.535 Männer.

Zusätzlich erwarben von 2000 bis 2022 8.133 Belarusen (5.432 Frauen und 2.701 Männer) die deutsche Staatsbürgerschaft. Gemäß der deutschen Gesetzgebung mussten Personen, die eingebürgert wurden, ihre belarusische Staatsbürgerschaft aufgeben.

Zu dieser Zahl könnte möglicherweise noch ein- oder zweitausend Personen hinzukommen, die in den 1990er Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, sowie Kinder von deutschen Staatsbürgern belarusischer Herkunft und Migranten aus früheren Zeiten und ihren Nachkommen. Somit kann die Gesamtzahl der Personen belarusischer Abstammung in Deutschland grob auf 45.000 bis 50.000 geschätzt werden.

Bemerkenswerte Belarusen, die in Deutschland leben, sind die Nobelpreisträgerin Śviatłana Aleksijevič, der Schriftsteller Alhierd Bacharevič, die Sängerin Vieranika Kruhłova („KRIWI“), der Regisseur Alaksiej Pałujan, die Sängerin Śvieta Bień („Serebryanaya svadba“) und die ehemalige Lukaschenka-Propagandistin Inha Chruščova, die die Proteste von 2020 unterstützte. Die Familie des verschwundenen Oppositionellen Jury Zacharanka lebt hier, ebenso wie der Oppositionspolitiker und hochrangige Militäroffizier Uładzimir Baradač. Der berühmte Schriftsteller Vasil Bykaŭ verbrachte einen Teil seines Exils in den 1990er und 2000er Jahren in Deutschland, der Wissenschaftler Barys Kit verbrachte die letzten Jahre seines Lebens hier. Aleh Ałkajeŭ, ein Zeuge der Morde an belarusischen Oppositionspolitikern in den Jahren 1999 und 2000, lebte und starb in Deutschland.

Historischer Kontext: Von den Sachsen auf dem Thron des Großherzogtums Litauen bis zu Radio Liberty in München

Deutschland hat eine tiefe historische Verbindung zu Belarus. Augustus II. der Starke und Augustus III. der Sachse, Vater und Sohn aus dem sächsischen Königshaus Wettin, herrschten als Großherzöge von Litauen und Könige von Polen (und damit auch als Herrscher über belarusische Gebiete) für einen Großteil des 18. Jahrhunderts. Die meisten belarusischen Juden, deren Gemeinschaft bis zum frühen 20. Jahrhundert bis zu einer Million Menschen ausmachte, stammten aus Deutschland und waren im Mittelalter wegen der Verfolgung nach Belarus ausgewandert. Über das aus dem mittelalterlichen Hochdeutsch stammende Jiddisch und über die polnische Sprache hat die belarusische Sprache zahlreiche deutsche Wörter entlehnt.

Seit dem Mittelalter existierte in Belarus eine deutsche Diaspora. Belarus hatte sogar kurzzeitig eine Grenze mit Deutschland, zuerst gemäß der 1918 förmlich erklärten Grenzen der Weißruthenischen Volksrepublik und später nach der Annexion von Westbelarus durch die UdSSR gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt im Jahr 1939.

Im 20. Jahrhundert überlebte Belarus zwei Kriege zwischen Deutschland und Russland beziehungsweise der UdSSR und war zweimal von der deutschen Armee besetzt. Die erste, vergleichsweise milde Besatzung erfolgte während des Ersten Weltkriegs. Während dieser Besatzung erhielt die belarusische Sprache erstmals seit mehreren Jahrhunderten einen offiziellen Status in Belarus. Die zweite, brutale Besatzung von Belarus durch die deutsche Wehrmacht, fand von 1941 bis 1944 statt und ging mit massivem Terror gegen belarusische Zivilisten einher, einschließlich des Völkermords an den belarusischen Juden. Als Folge des Zweiten Weltkriegs, der sowjetischen repressiven Politik nach dem Krieg und der Russifizierung sowie der Welle jüdischer Auswanderung in den 1970er und 1990er Jahren verschwand die jiddischsprachige belarusische jüdische Minderheit und die Diaspora der belarusischen Deutschen praktisch auf zu existieren.

Belarusen in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg

Anfang der 1920er Jahre existierte in Berlin eine diplomatische Mission der neu unabhängigen Weißruthenischen Volksrepublik und ein belarusisches Pressebüro. Das Deutsche Reich erkannte die Pässe der Weißruthenischen Volksrepublik an. Später etablierte Deutschland formell diplomatische Beziehungen zu dem sowjetischen Marionettenstaat, der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

Als das unabhängige Belarus Anfang der 1990er Jahre diplomatische Beziehungen zu Deutschland aufbaute, verwendeten belarusische Diplomaten den Begriff „Wiederherstellung“ der diplomatischen Beziehungen anstelle von „Neuaufnahme“.

Während des Zweiten Weltkriegs existierten in Deutschland, hauptsächlich in Berlin, mehrere belarusische Organisationen und pro-deutsche Propagandapublikationen unter Kontrolle des Hitler-Regimes. Die Nazis versuchten, die belarusische Unabhängigkeitsbewegung auszunutzen, um ihre Besatzungsmacht in Belarus zu stärken, während gewisse belarusische Politiker versuchten, die Nazis zu nutzen, um die belarusische Unabhängigkeit zu erlangen oder zumindest nicht-sowjetische belarusische Institutionen und Streitkräfte zu schaffen.

Gleichzeitig wurden viele Tausend belarusischer Ostarbeiter von den Nazis nach Deutschland verschleppt. Neueste Schätzungen gehen von einer Zahl von 380.000 Menschen aus.

Nach dem Krieg durchliefen Zehntausende von Belarusen Westdeutschland und die UNRRA-Flüchtlingslager. Dies waren Menschen, die aus Belarus flohen, wo das sowjetische stalinistische Regime die deutsche Besatzung ablöste, sowie belarusische Ostarbeiter, von denen mindestens 150.000 einer zwangsweisen Rückkehr in die UdSSR entkamen, wo viele von ihnen Repressionen des kommunistischen Regimes befürchteten. Im Archiv der Francis Skaryna Library in London gibt es Fotos von temporären belarusischen Holzkirchen in Regensburg und Rosenheim, Pfadfinderurkunden, Sammlungen von Zeitungen und Dokumenten belarusischer Gemeinschaften in Deutschland.

Belarusen in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Aus der Sammlung der Francis Skaryna Library in London

Nichts davon, keine Organisation oder Zeitung, hat überlebt. Für die meisten belarusischen Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland ein Transitland, von dem aus sie weiterzogen – nach Großbritannien, in die USA, nach Kanada oder Australien. In Großbritannien und Nordamerika sind die von ihnen geschaffenen Vereinigungen immer noch aktiv.

Die wahrscheinlich einzige kleine belarusische Gemeinschaft in Westdeutschland während des Kalten Krieges war das in München ansässige belarusische Redaktionsbüro von Radio Liberty (heute Radio Free Europe / Radio Liberty), das eines der Hauptzentren des belarusischen anti-sowjetischen Informationswiderstands war.

Im Jahr 1995 zog RFE/RL nach Prag, wo es sich noch heute befindet, was das organisierte belarusische Vorhandensein in Deutschland beendete. Es gab keine Kontinuität von Generation zu Generation innerhalb der belarusischen Diaspora in Deutschland und keine Übertragung des institutionellen Erbes, wie es in Großbritannien, den USA oder Kanada geschah. Auch gab es nicht viel Unterstützung von der Diaspora für die anfang 90er neu geschaffene belarusische Botschaft – abgesehen von der kurzfristigen Zusammenarbeit mit Radio Liberty. Im Gegensatz dazu übergaben 1991 lokale Belarusen beispielsweise in New York die erste weiß-rot-weiße Flagge des unabhängigen Belarus an die belarusische Vertretung bei den UN, und in London stellten sie sogar die ersten Räumlichkeiten für die belarusische Botschaft zur Verfügung.

Nur wenige Denkmäler und Artefakte blieben in Deutschland: das unter Belarusen gut bekannte Denkmal für die Helden des Słuck-Aufstands in Mittenwald, Bayern, das Privatmuseum und Archiv von Jury Popka in Leimen, das er dem unabhängigen belarusischen Staat vermachte. Viele Gräber belarusischer Aktivisten, die nach dem Krieg in Deutschland begraben wurden, wurden vernachlässigt und sind bereits verschwunden.

Postsowjetische Zeiten: eine zahlreiche, aber unorganisierte Diaspora

Belarusische Diaspora in Deutschland. Aus dem Privatarchiv von Alexander Moisseenko

Nachdem Belarus die Unabhängigkeit zurückerlangt hatte, kam eine Welle belarusischer Arbeitsmigranten und politischer Flüchtlinge nach Deutschland. Die wirtschaftliche Migration war allerdings kleiner als die aus benachbarten postkommunistischen Ländern, und politische Exilanten ließen sich hauptsächlich in Warschau, Vilnius und Prag nieder, nicht so sehr in Deutschland.

Der postsowjetischen belarusischen Diaspora in Deutschland mangelte es an organisierten Strukturen, es gab nur einzelne, voneinander getrennte kleine Gemeinschaften und informelle Treffen.

In den Jahren 2001 und 2004 unternahmen belarusische Politiker, ehemalige Aktivisten der Belarusischen Volksfront, mindestens zwei Versuche, Organisationen in Deutschland zu gründen, aber es konnten keine Informationen über ihre aktuellen Aktivitäten gefunden werden.

Nach 2020

Das Jahr 2020 markierte bedeutende Veränderungen in der belarusischen Diaspora weltweit, und in Deutschland waren diese Veränderungen wahrscheinlich stärker als anderswo. Massenproteste gegen die Fälschung der Präsidentschaftswahlen und die politischen Repressionen in Belarus führten zur Gründung von RAZAM e.V., einem deutschlandweiten Verein von Belarusen. Bis Ende 2023 hatte RAZAM etwa 270 Mitglieder im ganzen Land.

Belarusische Proteste in Deutschland, 2020 und 2021. Quelle: RAZAM e.V.

Seitdem organisiert RAZAM kulturelle Veranstaltungen, kommuniziert mit deutschen Politikern und beteiligt sich an gemeinnützigen Aktivitäten. Die belarusische Diaspora in Deutschland unterstützt Hunderte belarusischer politischer Flüchtlinge. RAZAM arbeitet mit Mara e.V., einer weiteren von Belarusen gegründeten NGO in Deutschland, zusammen, um politischen Flüchtlingen zu helfen.

Kulturelle Veranstaltungen, die von RAZAM organisiert wurden, wie das Minsk x Minga Festival in München, Vorlesungen über belarusische Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München oder Dichterlesungen in Nordrhein-Westfalen sind zu bedeutenden Beiträgen zur Popularisierung von Belarus in der deutschen Gesellschaft geworden.

Belarusische künstlerische und kulturelle Veranstaltungen finden regelmäßig im Haus der Statistik in Berlin statt. In Bremen gibt es regelmäßig kulturelle und informative Veranstaltungen sowie Tage der belarusischen Kultur, an denen auch ein Solidaritätsausschuss mit lokalen Politikern, Journalisten und Kulturschaffenden teilnimmt. Der Kulturverein Belarus wurde von Mitgliedern der belarusischen Diaspora gegründet.

In Bayern findet jedes Jahr das Münchenščyna Festival mit kulturellen Workshops für die ganze Familie statt. Es gibt Belarusisch-Sprachkurse für Kinder in München und Berlin. Lokale Treffen von Belarusen finden in Bremen und anderen Städten statt. An wichtigen Daten besuchen Belarusen das Denkmal für die Helden des Słuck-Aufstands in Mittenwald.

Im März 2023 erhielt RAZAM den Gustav-Heinemann-Bürgerpreis für seine Menschenrechts- und Bürgeraktivitäten. RAZAM ist die erste belarusische Diasporaorganisation, die in einer Bundestagsresolution erwähnt wurde.

Eine weitere wichtige Organisation ist die deutsch-belarussische gesellschaft, dbg, die lange Zeit hauptsächlich ein Verein von Deutschen war, die sich für Belarus interessierten. In letzter Zeit engagieren sich in ihr zunehmend Aktivisten der belarusischen Diaspora. Das jährliche Minsk Forum der dbg – seit 2020 außerhalb von Minsk abgehalten – wurde zu einer Plattform für Treffen von Mitgliedern der belarusischen Zivilgesellschaft und belarusischen demokratischen Politikern verschiedener politischer Parteien.

Deutschland wird immer ein Land sein, wo viele Belarusen leben. In deutschen Museen gibt es viele Objekte des belarusischen Kulturerbes und Kunstwerke von Belarusen. In verschiedenen Teilen des Landes finden sich viele architektonische Denkmäler, die mit Belarus und Belarusen in Verbindung stehen, und sogar Belarus-bezogene deutsche Kulturveranstaltungen wie die Landshuter Hochzeit, eines der größten Feste mittelalterlicher Kultur in Deutschland, das der Erinnerung an die Hochzeit des bayerischen Prinzen Georg und der polnisch-litauisch-belarusischen Prinzessin Hedwig Jagiellonica gewidmet ist.

Deutschland, als das größte Land der Europäischen Union, spielt eine entscheidende Rolle für Belarus. Die belarusische Diaspora kann erheblich zu den belarusisch-deutschen Kontakten beitragen.

Von Aleś Čajčyc
Beisitzer, deutsch-belarussische gesellschaft

Die Originalversion des Artikels auf Belarusisch wurde für Zapisy BINiM, eine belarusische wissenschaftliche Publikation mit Sitz in den USA, erstellt.

Links:

https://razam.de/ – RAZAM e.V.

https://www.facebook.com/minskminga – Minsk x Minga, das jährliche Fest der belarusischen Kultur in München

https://www.dbg-online.org/ – deutsch-belarussische gesellschaft e.V.

https://t.me/+7e1qhdQqQxphYTE6 – Belarusisches Kulturerbe in Deutschland, eine Gemeinschaft auf Telegram

https://www.kub-verein.de/ – Kulturverein Belarus

https://maraverein.de/ – Mara e.V.

* Datenquelle: destatis.de