Minsk Forum XX – Warschau

2022 bestand das Minsk Forum XX aus zwei eintägigen Konferenzen in Litauen und Polen, einem Rundtischgespräch mit Abgeordneten in Belgien und einer Abschlusskonferenz in Deutschland.

Die zweite Veranstaltung fand in einem gemischten Format am 22. und 23. September im Belarusischen Jugendzentrum in Warschau statt und umfasste unter anderem zwei Podiumsdiskussionen, Besuche in Büros von Bürgerorganisationen und die Präsentation soziologischer Forschungsergebnisse.

Die Veranstaltung wurde live gestreamt. Die Aufzeichnungen sind verfügbar auf Belarussisch und Englisch: auf der Website der Deutsch-Belarussischen Gesellschaft YoutTube channel.

Warschau, 22./23. September 2022

Belarus und der neue Wettbewerb der Systeme – eine Herausforderung für die europäische Friedensordnung und die Außenpolitik

Keynote

Pawel Latuschka, stellvertretender Leiter des Vereinigten Übergangskabinetts von Belarus, eröffnete den Hauptteil des Forums mit einer kurzen, aber prägnanten Rede. Latushka skizzierte die Erwartungen der Belarusen, die im August 2020 auf die Straße gingen, und teilte seine Sicht der aktuellen Situation, in der sich das Land befindet:

„Die Wahrheit ist, dass Belarus morgen vielleicht nicht mehr existiert. Stattdessen könnten wir ein Bild wie dieses sehen“, sagte er und zeigte auf das projizierte Bild eines Atompilzes über einer belarusischen Stadtlandschaft. Latuschka merkte an, dass er an die Möglichkeit glaube, die politische Realität zu verändern, und er sei überzeugt, dass der Verlauf des Krieges geändert werden könne, wenn der Kreml seinen Verbündeten Lukaschenko loswerde [verliere?].

Podiumsdiskussion I

Migrationskrisen in den osteuropäischen Ländern 2020- 2022: Risiken, Auswirkungen, Möglichkeiten

An der Diskussion nahmen Artur Michalski (Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter der Republik Polen in der Republik Belarus), Katarzyna Skopiec (Mitbegründerin der polnischen Stiftung HUMANOSH), Alexey Leonchik (Mitbegründer der Wohltätigkeitsstiftungen #BY_help und #BY_sol) und Jana Shostak (Vertreterin der Frauen-Bürgerinitiative „Partizanki“) teil. Palina Brodik (Koordinatorin, Free Belarus Center, Kiew) moderierte das Gespräch.

In ihrer Eröffnungsrede wies Frau Brodik darauf hin, dass es wichtig sei, Belarusisch zu einer der Hauptarbeitssprachen des Minsker Forums zu machen. Sie wies auch darauf hin, dass die große Zahl von Belarusen, die gezwungen waren, nach Polen oder in andere Länder zu fliehen, eine geopolitische Herausforderung und kein „belarusisches Problem“ sei. Bevor sie Botschafter Michalski das Wort erteilte, wies sie darauf hin, dass Polen bis 2020 das monoethnischste Land in Europa gewesen sei.

Der Botschafter der Republik Polen in der Republik Belarus, Herr Michalski, erklärte, dass Polen in den letzten drei Jahren 416 Tausend Visa an belarusische Bürger in Hrodna, Brest und Minsk ausgestellt habe. Und das, obwohl Herr Michalski selbst im Jahr 2020 gezwungen war, Belarus auf Ersuchen der belarusischen Behörden zu verlassen.

Frau Schostak erinnerte daran, dass Lukaschenkos Regime die ganze Zeit über eine humanitäre Katastrophe an der belarusisch-polnischen Grenze aufrechterhalten habe und dass diese Katastrophe nicht mehr in aller Munde sei, weil die Medien es leid seien, darüber zu schreiben. Sie wies auch darauf hin, dass sich die NRO jetzt eher auf die langfristige Arbeit mit den Migranten konzentrieren, um sie zu neuen Bürgern zu formen. Sie müssen sich integrieren, eine Ausbildung machen, einen Arbeitsplatz finden, die Sprache lernen usw., während es praktisch keine primäre Hilfe gibt wie z. B. die Begegnung mit Menschen direkt an der Grenze.

Frau Schostak sagte, dass die erste vom Roten Kreuz betriebene humanitäre Aufnahmestelle für Menschen 20 Kilometer von der Grenze entfernt liege. Ihren Beobachtungen zufolge sind die Menschen nach dem Grenzübertritt oft verwirrt und wissen nicht, wohin sie gehen und wie sie weiter vorgehen sollen. Diese Gruppe habe ein Zelt aufgebaut, in dem Menschen, die gerade die Grenze überquert haben, schlafen, essen und das weitere Vorgehen planen können. Nach Angaben von Frau Shostak haben in der vergangenen Woche etwa 100 Menschen in dem Zelt geschlafen.

Herr Leonchik ist der Ansicht, dass es in Polen schon immer mehr Arbeitsplätze gegeben habe als Menschen, die arbeiten wollen, und dass die polnische Wirtschaft weder durch die belarusische noch durch die ukrainische Migrationswelle erschüttert werde. Er wies darauf hin, dass Polen eine liberale Arbeitsmigrationspolitik verfolge, die vorsieht, dass der Antrag eines Arbeitgebers ausreicht, um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Seiner Meinung nach könne kein anderes EU-Land in dieser Hinsicht mit Polen mithalten.

Leonchik wies auch darauf hin, dass Menschen mit belarusischer Staatsbürgerschaft im Vergleich zu russischen Staatsbürgern in Bezug auf die Auswanderung privilegiert seien. Er betonte, dass seine Erwartungen an eine Beteiligung von Belarus an Russlands Landkrieg sehr gering seien. Er glaubt, dass Putin erst dann mit einer solchen Bitte an Lukaschenko herantreten werde, wenn ihm „die eigenen Leute ausgehen“.

Die Redner nannten folgende Probleme: allgemeine Erschöpfung durch die ständige Notwendigkeit, Migranten zu helfen, deren Zahl ständig zunimmt (Herr Leonchik); fehlende Rehabilitationsprogramme für ehemalige politische Gefangene (Frau Shostak) und fehlende schulische Integrationsprogramme für Kinder mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund (Frau Skopiec).

Herr Leonchik und Frau Shostak stimmten darin überein, dass individuelle Aktionen und die zwischenmenschliche Interaktion manchmal produktiver seien als zahlreiche Märsche oder Versuche, das System global zu ändern:

„Märsche und Demonstrationen in anderen Ländern sind wichtig, aber noch wichtiger ist es, wenigstens einem Nachbarn zu helfen. Nicht nur auf symbolischer Ebene, um Solidarität zu zeigen, sondern in der Praxis.“ – Frau Schostak.

„Wir müssen bei uns selbst anfangen. Wir müssen aufhören, zu sehr über globale Dinge nachzudenken. Wenn man globale Konstrukte nicht in den Griff bekommt, kann man auf menschlicher, persönlicher Ebene eine Menge tun.“ – Herr Leonchik.

Podiumsdiskussion II

Veränderung der geopolitischen Ordnung und die Zukunft Osteuropas nach Russlands Einmarsch in der Ukraine

Teilnehmer der Diskussion waren Prof. Agnieszka Legucka (Analystin, Polnisches Institut für Internationale Angelegenheiten), Uladzimir Astapenka (Stellvertretender Beauftragter für Außenpolitik des Vereinigten Übergangskabinetts von Belarus) und Anastasiia Sergeeva (Vorstandsvorsitzende der WOT-Stiftung). Das Gespräch wurde von Veranika Laputska (Mitbegründerin und Forschungsstipendiatin von EAST – Eurasian States in Transition) moderiert.

Frau Legucka erinnerte daran, dass sie vor einer Woche in einer ähnlichen Diskussion gesagt habe, dass es in Russland keine Mobilisierung geben werde, weil die russische Bevölkerung Putin und seinen Wunsch nach Krieg, sowohl in Syrien als auch jetzt in der Ukraine, nicht unterstütze. Sie sei gezwungen zuzugeben, dass ihre Vorhersagen nicht zutreffend waren – seit einigen Tagen diskutiere die ganze Welt über den Beginn einer „teilweisen“ Mobilisierung in Russland, „die tatsächlich überhaupt keine teilweise ist“, betonnte Frau Legucka.

Und sie fügte hinzu: Wenn man das Dekret genau lese, sehe man, dass die russischen Ministerien die volle Kontrolle darüber haben, wie viele Menschen sie in den Krieg schicken. Sie ist auch der Meinung, dass die Russen sich sehr anstrengen müssen, um herauszufinden, wie sie sich auf die Situation einstellen können: „Nicht um zu protestieren, sondern um sich buchstäblich anzupassen, nämlich einen Weg zu finden, das Land zu verlassen.“

Frau Legucka glaubt, dass der Kreml mit seinen Erklärungen über einen möglichen Nuklearschlag versucht, den Westen zu schockieren und einzuschüchtern, um die westliche militärische Unterstützung für die Ukraine zu verringern. Sie kann nicht sagen, ob diese Erklärungen ein Bluff sind oder nicht, denn „Putin ist verzweifelt“, aber sie ist sich sicher, dass die NATO diese Erklärungen ernst nimmt und Szenarien für mögliche Aktionen vorbereitet, auch für den Fall, dass am Ende Nuklearwaffen eingesetzt werden.

Ein wichtiger Teil der Rede von Frau Sergejewa war die These, dass es in Russland derzeit ein großes Defizit an alternativen politischen Ideen gebe, deren Botschaft einfach genug sei, um von der breiten Bevölkerung des Landes verstanden und unterstützt zu werden. Sie ist auch davon überzeugt, dass es in Russland keine echte demokratische Opposition gibt und Putin alles in seiner Macht Stehende getan habe, um sie zu zerstören.

Was die zahlreichen Fälle der Auswanderung von Russen betrifft, die gegen Putin und seinen Krieg sind, so ist Sergejewa der Meinung, dass es besser wäre, diese Menschen in die EU zu lassen, anstatt sie zur Flucht aus der [in die?] Ukraine zu bewegen und dort um Unterstützung zu bitten.

Was die Eliten innerhalb Russlands betrifft, so hat die Forscherin schon vor der Ankündigung der „teilweisen“ Mobilisierung von ihnen zwei gegensätzliche Signale wahrgenommen. Einerseits haben einige der Eliten ihre Selbstmobilisierung angekündigt und sehen in dem Krieg gewisse finanzielle Vorteile: „Für sie ist der Krieg das ’neue Öl‘. Sie bauen ihr Geschäft auf dem Krieg auf und werden seine Fortsetzung unterstützen.“ Andererseits, so Sergejewa, wollen dieselben Leute nicht Opfer eines Atomkriegs werden.

Das Thema einer möglichen Mobilisierung in Belarus wurde sowohl in dieser als auch in der vorangegangenen Diskussion angesprochen und die Mehrheit der Redner (Frau Sergejewa, Frau Legucka und Herr Leonchik) ist der Meinung, dass es in Belarus keine Mobilisierung geben werde. Gleichzeitig, so Herr Astapenka, sollten die Belarusen bedenken, dass alle Argumente, die Putin gegenüber der Ukraine vorgebracht hat, eines Tages auch gegenüber Belarus verwendet werden könnten. Und je mehr Erfolg die Ukraine auf dem Schlachtfeld habe, desto aktiver würden sich die belarusischen politischen Eliten auf neue mögliche politische Szenarien vorbereiten.

Präsentation

Belarusen in Polen, Litauen und Georgien: Haltung zum Krieg, Hilfe für die Ukraine, Diskriminierung

Zum Abschluss des Tages stellte der unabhängige Soziologe Philipp Bikanau die Ergebnisse der Studie „Belarusen in Polen, Litauen und Georgien: Einstellung zum Krieg, Hilfe für die Ukraine, Diskriminierung“ vor. Der vollständige Text der Studie ist auf der Website der Friedrich-Ebert-Stiftung verfügbar, die ihre Durchführung unterstützt hat. Die wichtigsten Ergebnisse dieser qualitativen soziologischen Untersuchung sind die folgenden:

  • Fast alle Belarusen in Polen, Litauen und Georgien unterstützen Lukaschenko nicht und lehnen die russische Aggression in der Ukraine entschieden ab.
  • Ethnische Diskriminierung und Feindseligkeit sind Teil der sozialen Realität der Belarusen in Georgien, Polen und Litauen geworden.
  • Belarusen, die in Polen, Litauen und Georgien leben, unterstützen die Ukraine und die Ukrainer trotz der Diskriminierung mit konkreten Aktionen.

So wurde auf der zweiten Konferenz des Minsk Forums XX in Warschau die neue geopolitische Realität von Belarus diskutiert. Die früheren binären Gegensätze „Einwanderer – Auswanderer“, „Frieden – Krieg“ und „unabhängiger Staat – besetztes Gebiet“ wurden durch neue, komplexere Kategorien ersetzt.

So ist Belarus de jure nicht direkt in den Krieg verwickelt, aber de facto ein Komplize bei den Kriegsverbrechen Russlands und Putins. Die wichtigsten Akteure der belarusischen Zivilgesellschaft sind diejenigen, die seit mehreren Jahren außerhalb des Landes leben. Offensichtlich wird die Situation in naher Zukunft nicht einfacher werden und von neuen geopolitischen Umständen bestimmt werden, bei denen die Zukunft von Belarus weitgehend vom Verlauf des russischen Krieges in der Ukraine abhängen wird.